Schicksale

Armut in München – Frauenobdach KARLA 51

Renate ist 54 Jahre alt. Im Zuge eines Rationalisierungsprozesses hat sie vor drei Jahren ihre Arbeit verloren und seitdem keine neue gefunden. Von Hartz IV kann sie ihre Wohnung nicht mehr bezahlen. Sie schämt sich, nach Jahrzehnten des selbständigen Lebens „dem Staat auf der Tasche“ zu liegen. Rechnungen stapeln sich in ihrer Wohnung, aus Angst und Scham öffnet sie sie nicht mehr. Letztendlich wird Renate zwangsgeräumt. Einige Wochen findet sie noch Unterschlupf bei Bekannten, dann steht sie endgültig auf der Straße. Mit zwei Kartons und mehreren Tüten findet sie nachts um halb drei Uhr Aufnahme im Frauenobdach Karla 51.

KARLA 51 – eine Einrichtung des Evangelischen Hilfswerkes - berät und betreut Frauen, die sich in solchen Situationen befinden. Seit 20 Jahren gibt es das Frauenobdach ganz in der Nähe des Münchner Hauptbahnhofs (www.karla51.de ).  Jede Frau in Not, die nicht weiß, wo sie übernachten soll, findet hier rund um die Uhr, an jedem Tag im Jahr, Aufnahme, Beratung und Hilfe.

40 Einzelzimmer mit angeschlossenem kleinen Bad und Gemeinschaftsküchen stehen im Haus zur Verfügung.  Während des Aufenthalts bei KARLA 51 erhalten die Frauen Hilfestellungen aller Art. An fünf Tagen in der Woche haben Frauen hier die Möglichkeit, sich auszutauschen, gemeinsam zu essen, Wäsche zu waschen, zu duschen. Sie können mit einer Ärztin oder einer Psychiaterin sprechen. In der hauseigenen Kleiderkammer können sie sich saubere und gut erhaltene Kleidung aussuchen. Eine Friseurin bietet regelmäßig ehrenamtlich ihre Dienste an, alle zwei Wochen gibt es kostenlose Fußpflege.

Das Frauencafé, das im Haus integriert ist, stellt einen wichtigen Treffpunkt dar. Im Café setzt KARLA 51 die viel beschworene „gesellschaftliche Teilhabe“ jeden Tag ganz konkret um.

Frau D.

 

Mitte September erreichte uns der Hilferuf einer Frau, der selbst für unser Haus und den uns bekannten Notsituationen, besonders außergewöhnlich war. Zwei Passantinnen hatten eine 93 jährige Iranerin, Frau D., weinend und hilflos auf der Straße umherirren sehen und sie mit nach Hause genommen. Selbstverständlich konnten sie Frau D. nicht bei sich beherbergen und so  kamen sie mit ihr in unser Frauenobdach.

 

Frau D. stammt aus Teheran, war dort Lehrerin und bekam im Alter von fast 40 Jahren ihr erstes und einziges Kind Ava. Da die politische Situation im Iran, damals noch Persien,  schwierig war, unternahm Frau D. alles, ihrer  Tochter eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Sie schickte sie nach dem Schulabschluss nach Deutschland. Ava war intelligent, hatte gute Noten und studierte in Deutschland Architektur. Im Alter von 65 Jahren reiste Frau D. nach Deutschland  zu ihrer Tochter, der einzigen Angehörigen, die sie noch hatte. Als sie immer mehr Zeit bei ihrer Tochter und dem Enkelsohn  verbrachte, fiel irgendwann der gemeinsame Beschluss, dass es für alle Beteiligten besser ist, wenn Frau D. bei ihrer Tochter einzieht.

 

Aufgrund des beengten Raumes – Mutter und Tochter teilten sich ein Zimmer – eskalierte die Situation schon nach wenigen Wochen. Außer den verbalen Auseinandersetzungen kam es zu Handgreiflichkeiten der Tochter gegenüber ihrer Mutter bis hin zu Schubsereien, Schlägen und Bissen.

 

An dem Tag, als sie von den Passantinnen gefunden wurde, hatte die Tochter sie mit ein paar Kleidungsstücken und ihrem Rollator aus der Wohnung geworfen und ihr gesagt, dass sie nun nicht mehr bei ihr wohnen könne.

 

Nun kam Frau D., 93 Jahre alt, kein Deutsch sprechend und nicht in der Lage sich eigenständig zu versorgen, in die Karla 51. Objektiv betrachtet war sofort klar, dass dies eigentlich nicht der richtige Platz für die alte Dame ist, aber mit den bestehenden Voraussetzungen kam auch keine andere Notaufnahmestelle in Frage, zumal sie ja akut Hilfe in Form eines Wohnplatzes  brauchte. Frau D. konnte nicht  mehr alleine einkaufen oder kochen, sich nicht duschen oder umziehen: Der hohe Hilfebedarf konnte mit der Struktur von Karla 51 nicht längerfristig gedeckt werden. So war von Anfang an klar,  dass es galt, sie möglichst schnell in ein geeignetes Pflegeheim zu vermitteln.

 

Frau D. bekam -  weil es sich zunächst  nicht anders bewerkstelligen ließ - eine Rundum-Versorgung von Karla 51: Morgendliche Hilfe beim Anziehen, täglich ein warmes Mittagessen, Einkäufe für Frühstück und Abendessen, duschen, Wäsche waschen, Bett beziehen, putzen und Müll wegbringen.

 

Zudem wurde Sie regelmäßig von den Mitarbeiterinnen „besucht“ und es wurde eine gewisse Zeit mit ihr im Café oder auch in ihrem Zimmer verbracht, damit sie sich nicht einsam fühlt. Frau D. genoss es, im Café unter vielen Frauen zu sitzen und mittendrin Teil des turbulenten Betriebs zu sein.

 

Am Tag ihres 94 .Geburtstages konnte Frau D. nach elf Wochen in Karla 51 ihr Zimmer im Pflegeheim beziehen und war sehr glücklich, endlich wieder ein Zuhause zu haben, wo sie willkommen ist und für immer bleiben kann.

Samiras Geschichte

 

Zusammen mit ihrem Mann und dem fünfjährigen Sohn Karim lebt Samira in einem kleinen Dorf ganz im Süden Somalias. Karim ist gehörlos und erfährt viel Aufmerksamkeit und Zuwendung durch seine Eltern.

 

1998 wird das Dorf von einer Bürgerkriegsbande überfallen. Samira wird mehrmals vergewaltigt. Als sie das Bewusstsein wiedererlangt, findet sie ihren erschossenen Mann. Der kleine Karim ist verschwunden.

 

Im Jahr 2000 heiratet Samira erneut und im Juli 2001 wird der kleine Hassan geboren. Zwei Jahre später wiederholt sich der Albtraum: Wieder wird das Dorf von Bürgerkriegsmilizen überfallen, wieder wird Samira vergewaltigt, und wieder verliert sie Mann und Kind – die beiden sind verschwunden.

 

Trotz der traumatisierenden Erlebnisse engagiert sich Samira in einer Gruppe gegen die Genital-Beschneidung von Frauen. Nachdem fünf ihrer Mitstreiterinnen ermordet worden sind, fürchtet Samira um ihr Leben. Ihre Verwandten legen für sie soviel Geld und Goldschmuck zusammen, dass es für eine Flucht nach Deutschland reicht. Als Samira im Alter von 36 Jahren im September 2005 in der Erstaufnahmestelle in Passau ankommt, ist sie schwer traumatisiert und überzeugt davon, dass ihre beiden Söhne und ihr zweiter Ehemann tot sind. Doch  im Jahr 2007 erfährt Samira plötzlich durch somalische Flüchtlinge, dass der gehörlose Karim bei einem Geschäftsmann in Dar Es Salam lebt.

 

Die Mitarbeiterin einer Passauer Rechtsanwaltskanzlei macht es sich zur Aufgabe, Samira auf dem langen Weg zu einer  möglichen Familienzusammenführung zu unterstützen.

Im Herbst 2008 findet überdies das mittlerweile eingeschaltete UN-Flüchtlingshilfswerk heraus, dass der zweite Sohn Hassan in Kenia bei einer alten Frau lebt. Der Vater war mit ihm nach Mombasa geflüchtet und hatte sich einige Monate zuvor aufgemacht, seine Frau in Somalia zu suchen. Den Jungen hatte er in die Obhut der alten Frau gegeben.

 

Samira kommt als Asylberechtigte von Passau nach München, weil sie hier Arbeit gefunden hat. Wir nehmen sie im Frauenobdach KARLA 51 auf. Die Passauer Rechtsanwältin beendet ihre Arbeit und übergibt KARLA 51 die Aufgabe, die Familienzusammenführung weiter voran zu bringen. Fehlende Dokumente müssen durch DNA-Analysen und eidesstattliche Erklärungen ersetzt werden. Es gilt, das Geld für die Flüge der Kinder nach Deutschland aufzutreiben.

 

Nach viel Arbeit, bürokratischen Stolpersteinen und langem Warten sind alle Hindernisse beseitigt und der Ankunft von Karim und Hassan steht nichts mehr im Wege: An zwei Tagen hintereinander landen die beiden sehr aufgeregten Jungen im September 2009 in München: Ein gehörloser fast 16-jähriger Jugendlicher, der schriftlich auf Suaheli und Englisch kommunizieren kann, sich vage an seine Mutter erinnert und seinem neuen Leben hoffnungsvoll entgegen blickt, und ein achtjähriger Bub, der sich nicht an seine Mutter erinnert, der bis vorgestern bei einer alten Frau (seiner „Oma“) gelebt und dort vergeblich auf die Rückkehr seines Vaters gewartet hat. Diese beiden Jungen treffen auf eine traumatisierte Mutter, die trotz vieler hundert Unterrichtsstunden weder schreiben und lesen kann, noch halbwegs deutsch gelernt hat („mein Kopf kaputt!“), die unendlich glücklich ist, ihre Söhne wieder zu bekommen – auch wenn sie mit dem Älteren kaum kommunizieren kann und der Jüngere sie als „Fremde“ ablehnt.

 

Nach mehreren Zwischenstationen können Mutter und Söhne 2012 dank einer glücklichen Fügung in eine wunderschöne, ausreichend große, neu renovierte Wohnung des Evangelischen Hilfswerks einziehen. Samira hat über die Agentur für Arbeit eine Anstellung in einer Kantine gefunden. Sie lernt dort gut Deutsch und sagt, dass die Einbindung in Arbeit und Team wie Therapie für sie ist. Ihr geht es viel besser, auch wenn die furchtbaren Erlebnisse sie ab und zu noch einholen.

 

Karim besucht für drei Jahre die Schule für Hörgeschädigte und beginnt dann eine Ausbildung zum Maler. Sein Verhältnis zur Mutter ist manchmal schwierig. Aber Karim ist ein vernünftiger junger Mann und geht seinen Weg. Hassan kann ein Therapie-Angebot bei Refugio nutzen, besucht mittlerweile die 8. Klasse Realschule und hat Samira längst als seine Mutter akzeptiert. KARLA 51 begleitet die Familie während des ganzen Prozesses. Als Hassan nach einigen Monaten in München schon recht gut Deutsch sprechen kann, vertraut er einer Karla-Mitarbeiterin etwas an: Sein Papa hätte ihm erzählt, dass seine Mutter über dem rechten Auge eine kleine Narbe hätte. An der könne er erkennen, dass es seine Mama sei – und so war es.

Mammalades Welt